groupshow

Hyperobjects

opening 22. october 2020

exhibition view

Galerie Judith Andreae, Bonn

Ausstellungsansichten

 Claudia Mann, headrest, 2020

"Eyeless and voiceless faces that nonetheless see and speak"

Sichelförmig hebt sich die eine Skulptur der headrest Werkgruppe von der anderen ab. Stolz präsentieren sich die Arbeiten, wie Büsten, die den Betrachter anzuschauen vermögen. Andere vermögen sogar durch ihr Anlitz zum Boden zu lenken. Auf unterschiedlichen Augenhöhen konfrontieren sie und bilden ein tiefes Schweigen im Raum ab. Während eines Aufenthalts in Paris 2016 trifft Claudia Mann auf wesenseigene Formen altertümlicher Kultur: altägyptische Kopfstützen, die in der Sammlung des Louvres ausgestellt sind. Mit diesen setzt sie sich in der Werkreihe der headrests auseinander in dem Wunsch, der Bedeutung und dem Widerhall ihrer Präsenz nachzuspüren. Zur selben Zeit, am selben Ort ist Aero entstanden, eine Fotoarbeit, die einen forschenden Blick auf die Sockel der Nike von Samothrake wirft. Claudia Mann hatte die Gelegenheit im Louvre für ihre Arbeit und philosophische Auseinandersetzung mit Skulptur zu forschen. Claudia Mann sieht in die Skulptur hinein, genau an den Punkt an dem das steinerne Schiff zwischen Fliegen und Schwimmen ringt. Die Fotoarbeit knüpft an die entscheidende Fragestellung der Künstlerin an, mit der sie sich seit Beginn ihrer künstlerischen Tätigkeit auseinandersetzt: Wo beginnt Skulptur? Was ist die erste Skulptur? Welches sind die Urformen der Skulptur?Diese Fragen führen nun auf der Grundlage dieser Fragestellungen weit über diese hinaus. In der Werkreihe der headrests werden weitere Antworten auf existentielle Fragestellungen gesucht: Was geschieht am Rande des Lebens? Wie geht man aus dem Leben? Wann beginnt die Ruhe?

Die Ägypter legten hohen Wert auf die Kopfstützen, die in der Gegenwart ebenso ihre wichtige Funktion beibehielten, wie in der Nachwelt. Sie sollten den Verstorbenen bei der Auferstehung im Jenseits helfen und beim Aufrichten des Kopfes, und sind eine Art Schlüssel zum Übergang zwischen Leben und Tod. Auch für Claudia Mann stellen die headrests Schlüssel dar - Codes mit denen sie die Frage nach der Bedeutung und der Urform von Skulptur zu entschlüsseln versucht. Wird der Körper, der Geist und die Seele auch nach dem Tod des Verstorbenen im Jenseits getragen? Hierfür waren die Stützen von großer Bedeutung: Selten zeigen die Sarkophage eine kleine Perforierung, ein Guckloch, welches den Verstorbenen ermöglichen sollte zwischen den Welten wandeln zu können - zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten. Die Kopfstützen trugen hierbei die Augen des Verstorbenen wie auf Händen. Sie waren ein konstanter Gegenstand der Grabbeigaben. Es wurden ebenso Hieroglyphen auf den Kopfstützen gefunden, wie z.B. „ankh“, was Leben bedeutet. Man fand auch apotropäische Symbole, die den Ruhenden während seiner „Übergangsphasen“ schützen sollten. Auch die dreiteilige Komposition der Kopfstützen - Fuß, Hals, Gabel - galt symbolisch als Horizont und wurde in Verbindung mit der aufgehenden Sonne, und damit einer Form der Auferstehung betrachtet. Es ist, als schaue man in ein Gesicht, welches sich durch die Form der Kopfstütze manifestiert. Die spröde und scheinbar bewegliche Oberfläche der gegossenen Bronze steht der Fragilität dieser „Zwischenwelt“ gegenüber. C.M.

Es sind „eyeless faces“, wie Henri Focillon in seinem Werk „The Life of Forms in Art“ über seine eigenen Hände zu sprechen wusste.1  Claudia Mann widmet sich mit headrests der Kunstform einer vergangenen Zeit, die sie - wie in all ihren Werken - mit den Maßen ihres eigenen Körpers und Körpergefühls in die Gegenwart überträgt. Emotion als Betrachtungsgegenstand gewinnt in dieser Werkreihe zunehmend an richtungsweisender Bedeutung im künstlerischen Repertoire von Claudia Mann und wird zum Parameter ihrer Suche nach dem, was Skulptur ist. Die Künstlerin spricht von einer Intuition, der sie folgt; von einem Zustand, in dem das bewusst Wahrgenommene dem Unbewussten gegenübergestellt, aber nicht untergeordnet wird, und von dem sich im Prozess der „Skulptur-Bildung“ eine Wahrheit abliest - vielleicht eine der vielen Antworten auf die Frage was Skulptur bedeutet und was ihr Wesen ist. Die Wahrheit liegt im Gefühl und in den Entscheidungen, die meine Hände mit dem Material eingehen. Der gesamte Entstehungsprozess gerät außer Kontrolle und ist natürlich dennoch in Parametern eingebunden; meine Hände übernehmen die Übersetzung der Gedanken, der Empfindungen und der Konfrontation, der ich mich gestellt fühle, und die sprachlich keine Entsprechung findet und nicht übertragen werden kann. Ich verstehe die „headrests“ als Spiegel unserer selbst, wie Schlüssel zwischen den Welten. Und durchaus steht die Frage im Raum: Welche Art von Welten? Meine, Deine? Innen? Außen?... C.M.    Unter den Bedingungen der Gravitation und mit Einsatz eines bewusst gesetzten Kraftakts, stellt sich die Künstlerin dem Kampf das Material zu formen. Manchmal schließt sie während des gesamten Arbeitsprozesses die Augen. Wenn sie etwas zum Schluss erblickt, beschreibt sie es als Subjekt. Es ist als ob das Material Herr ihrer selbst wird und nicht umgekehrt. Claudia Mann ist sich dessen bewusst, dass sie selbst der Sender ist, das Medium und dadurch auch der unumgänglichste Teil ihrer Arbeit. Die Skulpturen können nur durch Einbindung ihres gesamten Körpers entstehen. Stellt sie selbst die „erste Skulptur“ dar, nach der sie sucht?   Die Körpermaße der Künstlerin sind gleichzeitig die Grenzen und die Ausprägung ihrer Skulpturen, so auch in den Werkreihen Aero, Solid Aero, Model for Sculptures Inside, u.v.w. Das Volumen ihres Körpers steht im Verhältnis zum Material und damit zum Raum, der die Möglichkeiten ihrer Bewegungen bestimmt. Auch die headrests entstanden durch die Abformung des Kopfes der Künstlerin. Jedoch findet sie hier einen Weg dem Zugang zum Unterbewussten eine Spur zu verleihen.  Man könnte Claudia Mann in ihrem Schaffen als Urheberin sehen, denn über die Abformung - der Gleichstellung von Positiv- und Negativform - stellt sie sich bedingungslos, wie sie selbst beschreibt, „einem Aneignungsprozess um einen Sachverhalt zu sezieren“.2 Diesmal ist es nicht nur physische Auseinandersetzung, sondern greifbar werdende Emotion. 

Die Kopfstütze ist für C.Mann eine Urform, die sich vielleicht als eine Art Prothese, aber auch im weitesten Sinne als Körpererweiterung begreifen lassen darf. In der Funktion eines stützenden Körpers, einer „Anfügung“, steht sie in ihrer Metaphorik für etwas nicht sichtbares, das in Claudia Manns Werkreihe der headrests visualisiert wird. Die Kopfstützen nehmen in ihrem Gebrauch ihre Rolle dann erst ein, wenn sich der Mensch in einem „Übergang“ befindet. Auch der Schlaf ist eine Form des Übergangs, ein Bewusstseinswechsel. Das Leben selbst beginnt mit der Geburt als eine Form des Übergangs. Weißlich rosé gefärbte Schlieren und Reste des Wachsausschmelzverfahrens zeichnen die Oberflächen der headrests. Was die Geburtshaut eines Kindes ist, übersetzt Claudia Mann in Form der naturgegebenen Gusshaut an den Bronzearbeiten und begreift diese als wesentlichen Teil dieser Werkgruppe. Für Claudia Mann fungieren die headrests wie Schlüssel zwischen den Welten, wie Begleiter zwischen den physischen und metaphysischen Gegensätzen unserer Wahrnehmung. „Alles entsteht aus dem ihm Entgegengesetzten und wird wieder zu dem ihm Entgegengesetzten. Also wird aus dem Lebendigen das Tote und aus diesem wieder Lebendiges.“3

Die Substanz, der sich Claudia Mann in ihrer Arbeit mit Skulptur konfrontiert sieht, ist ein Spiegel, der durch Antipode wie Material, Gravitation und eigener körperlicher Bewegung beeinflusst und geformt wird, der ein ‚Entgegengesetztes‘, ein Gegenüber sichtbar macht. In den headrests sucht sie die Präsenz dieses Gegenübers und stellt sich in der Werkreihe dem Problem von Autorschaft, Zeitlichkeit und Vergänglichkeit. Es sind eyeless and voiceless faces that nonetheless see and speak.

 

Text: Claudia Mann & Sewastia Vassiliadu

Ausstellungsansichten: Hyperobjects, Galerie Judith Andreae, 2020-21 

Fotos: Ben Hermanni & Claudia Mann, VG Bild-Kunst, Bonn

headrests 1#-5#; Bronze, Stahl; 2020; dim. v.

 

1 „Hands are almost living beings, endowed with a vigorous free spirit with a physiognomy. Eyeless and voiceless faces that nonetheless see and speak“, Henry Focillon, „Life of Forms in Art“;  Zone Books; Revised Edition, 9. September 1992

2 Katharina Wendler, in „Claudia Mann - Solid Aero“- „Die Urheberin“, Schülke Verlag, 2018

3 Héctor Wittwer, „Philosophie des Todes“, S.34, 2009, Reclam